Kritik zum Fotobuch "Quand même / Anyway / Trotzdem"
"Dorothée Lebrun leistet mit diesem wunderschönen Buch ein Werk des Erinnerns sowie der Menschlichkeit, mögen wir uns davon inspirieren lassen..."
Dieser vom Fotobuchkritiker Frédéric Martin verfasste Text erschien auf 5, rue du, Chroniques de livres photos am 27. Dezember 2023 und wurde aus dem Französischen übersetzt.
The Eye of Photography publizierte diese Kritik mit weiteren Bildern am 17. Januar 2024.
In Quand même / Anyway / Trotzdem, erschienen im Verlag La 21ème Saison, dokumentiert die deutsche Fotografin Dorothée Lebrun diesen besonderen Moment des 1. Lockdowns 2020. Doch abweichend von anderen, konventionelleren Darstellungen entschied sie sich, ihre Nachbarn im Viertel Saint-Cyprien in Toulouse zu porträtieren.
Quand même / Anyway / Trotzdem zeigt 42 Porträts, 42 Szenen, die an diese 55 Tage außerhalb des Zeitgefüges erinnern.
Sie sind zwei, die vor einem weißen Laken posieren: Er trägt mit Farbe beschmierte Kleidung und hält eine Farbrolle, sie hält einen Lappen und eine Spraydose in den Händen und scheint bereit, die Spuren zu beseitigen, die er hinterlassen hat.
Sie steht allein vor demselben weißen Tuch und hält ein Radio in der Hand oder es wird noch eine andere Person mit einer Gitarre dargestellt, ein Paar mit Kindern und jeder hat seine eigene Beschäftigung. Und so weiter und so fort...
Zweiundvierzig Mal das gleiche Dispositiv und trotzdem zweiundvierzig verschiedene Leben.
Denn darum geht es hier: Obwohl Frankreich von dieser seltsamen Art der Gefangenschaft betroffen ist, unsere Bewegungsfreiheit auf einen Radius von einem Kilometer beschränkt ist und wir uns selbst erlauben müssen, einkaufen zu gehen, müssen wir alle trotzdem weiterleben. Natürlich war das nicht so einfach, denn es fehlt an Bezugspunkten, an Verbindungen, an Arbeit und Geselligkeit, das Fernsehen verbreitet seine morbide Litanei und die Angst vor diesem unsichtbaren Virus lastet schwer auf uns. Aber nach und nach organisiert man sich, jätet ein Beet, das es dringend nötig hat, beginnt wieder zu kochen, entdeckt das Lesen, die Musik, die Freude und seine Lieben wieder.
Dorothée Lebrun greift diese Fülle von Existenzen auf, um sie zu fotografieren und in der Zeit nach dem Lockdown fortzusetzen. Mit einem Augenzwinkern verweist diese Porträtserie auf den Fotografen Stephan Moses und könnte auch an die Arbeit von August Sanders erinnern. In einigen Jahrzehnten, vielleicht sogar in 20 Jahren, werden wir sicherlich einen Großteil dieser beengten Tage und die Art und Weise wie wir sie verbrachten, vergessen haben. Die Fotografien und das Buch selbst werden dann als Erinnerung an diese Zeit, an diese Geschichte dienen, so wie die Fotografien von Sanders die deutsche Gesellschaft seiner Zeit dokumentierten.
Wir haben den Lockdown erlebt, aber es kann sein - und das ist das Beste - was wir hoffen können -, dass solch ein plötzlicher Einschnitt nie wiederkommt. Was ist also wichtiger als eine Erinnerung davon zu behalten? Und vor allem: Was ist wichtiger als die Erinnerung an das zu bewahren, was wir in dieser Zeit taten?
Dorothée Lebrun legt uns hier auch ein eigentümliches Werk vor, ein Werk, in dem die Zärtlichkeit und die Brüderlichkeit durchscheinen, die in unseren menschlichen Gesellschaften manchmal fehlen. Wir vergessen allzu oft die Menschen um uns herum, vernachlässigen sie, um weiter durch unser hektisches Leben zu preschen. Dennoch gibt es Menschlichkeit, mit der wir in Berührung kommen, Freunde, Verwandte, so viele verschiedene Leben, die wir nicht vergessen sollten. Der Lockdown hätte vielleicht als Auslöser dienen können (für die berühmte Welt danach, die uns versprochen wurde und welche nie kam) oder zumindest als Bewusstwerdung. Leider war dies nicht der Fall.
Ein Buch wie Quand même / Anyway / Trotzdem bietet eine zweite Chance, sich mit dem zu beschäftigen, was uns umgibt und sich auf die Brüderlichkeit zu besinnen, die die Grundlage unserer Existenz sein sollte.
Dorothée Lebrun leistet mit diesem wunderschönen Buch ein Werk des Erinnerns sowie der Menschlichkeit, mögen wir uns davon inspirieren lassen...
Mehr zu dem wie das Buch entstanden ist, erfährst du hier.